Geistiger Neubeginn 1945

1945 – Eine „Stunde Null“ in den Köpfen? • Eine Rezension von Ludwig Elm in
„Unsere Zeit“ Ausgabe vom 23. September 2016

Der Sammelband „1945 – Eine ‚Stunde Null‘ in den Köpfen? Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus“ ist aus einem Kolloquium hervorgegangen, das vom Berlin-Brandenburger Bildungswerk e. V. und dem Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V. am 30. April 2015 im Kulturgut Marzahn, Berlin, anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus durchgeführt wurde. Die Tagung erörterte, bemerken die Herausgeber einführend, im Gedenken an den 8. Mai 1945 „als einzige wissenschaftliche Konferenz in Deutschland ausführlich und differenziert die geistige Situation nach der Befreiung vom Faschismus.“ (S. 9) Der Band umfasst Beiträge von einer Autorin und 12 Autoren sowie als Extra einen Text aus dem Katalog der Marzahner Kunstausstellung vom Mai 2010, drei Rückblicke von Zeitgenossen und den Anhang mit Abbildungen, Abkürzungen, Personenregister, Literatur und Angaben zu den Autoren und Herausgebern.
Als Auftakt erörtern Rainer Holze und Reiner Zilkenat „Der 8. Mai 1945 und die geistige Situation der Zeit“. Sie skizzieren den historischen Hintergrund seit 1871 und 1933 sowie Aspekte der beginnenden Kontroversen um die Schuldfrage und sich daraus beim Neubeginn ergebende Konsequenzen und Wirkungen: „Insgesamt kamen die ‚alten Eliten’, die Hitler und sein Regime ermöglicht hatten, weitgehend ungeschoren davon, zumindest in den Westzonen und in der späteren Bundesrepublik.“ (S. 26) Günter Benser würdigt „1945 – eine historische Zäsur“ unter Gesichtspunkten, die die weltgeschichtliche Bedeutung ebenso wie Unterschiede ihrer Bewertung in den geschichtsideologischen und – wissenschaftlichen Debatten und Darstellungen verdeutlichen. Dazu gehören ein „verändertes internationales Kräfteverhältnis und eine neue internationale Architektur“, der „allgemeine sozialistische Zug der Zeit“, das sich ankündigende Ende des imperialistischen Kolonialsystems sowie die „Abrechnung mit dem Faschismus und Bestrafung der Schuldigen“. Im Ausblick auf „die Welt von heute“ benennt er – im Kontrast zu den Hoffnungen von 1945 – die destruktiven Erscheinungen der entscheidend von den kapitalistischen Metropolen ausgehenden geo- und machtpolitischen Strategien und Spannungen, Aufrüstung, Interventionen und davon ausgelöster Flüchtlingsströme.

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Nicht nur diese Trümmer mussten
beseitigt werden … (Foto: UZ-Archiv)

Die Frauen: „Im Allgemeinen“ und im politischen Bereich …
„‚Ihr seid der Machtfaktor!’ – Überparteiliche und Sozialdemokratische Frauenpolitik nach der Befreiung“ behandelt Gisela Notz und geht wohl zu recht davon aus, dass dieser Themenkreis bisher auch bei der Nachkriegsgeschichte vernachlässigt wurde. Sie würdigt die frühen überparteilichen Frauenausschüsse sowie den Neubeginn sozialdemokratischer Frauenpolitik. Kurt Schumacher drängte frühzeitig auf die Unabhängigkeit von bürgerlichen Bestrebungen und zunehmend auf die Abgrenzung von den KommunistInnen. Die Frauen-Mehrheit in der Bevölkerung bewirkte keineswegs mehr Einfluss in der SPD. Bei den Männern lebten traditionelle Vorstellungen über die „Frauen im Allgemeinen und besonders im politischen Bereich“ fort: „In den meisten Macht- und Entscheidungspositionen saßen, wie in den anderen Parteien auch, schon wieder Männer.“ (S. 56)

SPD und KPD
Peter Brandt beschäftigt sich mit Schlüsselproblemen und Herausforderungen der unmittelbaren Nachkriegssituation, denen strategische Bedeutung und langfristige Auswirkungen zukamen: „Antifaschismus und ‚Einheit der Arbeiterklasse’, Demokratie und Sozialismus. Konzeptionen der deutschen Sozialdemokratie im Jahre 1945: Grotewohl, Schumacher und die anderen.“ Er geht von Einschätzungen und Überlegungen während der Kriegsjahre und seit der Befreiung aus, zunächst dargestellt an Hermann Brill und Otto Grotewohl. „Die innersozialdemokratische Ost-West-Kontroverse 1945/46 war, jedenfalls im Ursprung, keine zwischen Links und Rechts. In der Sache dominierten die Übereinstimmungen, namentlich im Spätsommer 1945, wenn auch die jeweilige Tonlage eine andere war.“ (S. 73) Differenzen blieben bezüglich der Haltung zur KPD. Es gab jedoch, „weit verbreitet, den auch stark emotional gespeisten Wunsch, die organisatorische Spaltung der parteipolitischen Arbeiterbewegung zu überwinden, zumindest aber zu einem konstruktiven und kooperativen Verhältnis von SPD und KPD zu kommen.“ (S. 73) Gegen diese Neigungen richtete sich das bald dominante Wirken von Kurt Schumacher. Mit dem Scheitern der von Viktor Agartz konzipierten radikalen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen als sozialdemokratische Strategie ging ab 1948 der Einfluss der SPD auch in den Westzonen zurück.
Die Ausführungen von Jürgen Hofmann schließen sich folgerichtig an: „Die KPD und ihre Auseinandersetzung mit der ideologischen Hinterlassenschaft des deutschen Faschismus 1945/1946“. Akzentuiert werden im Kontext selbstkritischer Reflexionen die Positionen zur Nation sowie zur jüngsten deutschen Geschichte, insbesondere Nazismus und Kriegsschuldfrage. Die geistige Neuorientierung prägte bald Arbeitsfelder wie Kulturpolitik, Schulreform und Parteischulung. Als Defizit wird die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus genannt, dessen Spezifik im Rahmen des Rassismus unzureichend berücksichtigt und gewertet wurde.

Umbruchszeit
Siegfried Prokop widmet sich auf der Grundlage seiner langjährigen Forschungen dem Thema: „Die Intelligenz im Jahre 1945“. Ein hoher Anteil der Professoren, Lehrer, Ingenieure und Techniker hatten der NSDAP und weiteren NS-Organisationen angehört, vielfach in leitenden und propagandistischen Funktionen. Differenzierter war das Bild bei der künstlerischen Intelligenz: „Praktisch war der NS-Politik in die Reihen der namhaften Schriftsteller kein markanter Einbruch gelungen.“ (S. 102) In der SBZ und frühen DDR führten grundlegende Reformen zu sozialem Wandel in Bildung, Wissenschaft und Kultur einschließlich einer entschiedenen ideell-politischen Neuorientierung, zumindest bei bald wachsenden sozialen und beruflichen Gruppen in dieser Schicht.
Weitere Beiträge erweitern und bereichern das spezifische soziale, strukturelle und individuelle Spektrum jener Umbruchzeit: Jörg Roesler: „Wie die Flüchtlinge die ‚Stunde Null’ erlebten und welche Perspektive man den Deutschen aus dem Osten in der Sowjetischen bzw. Britischen Besatzungszone bot“; Günter Benser: „Die antifaschistischen Ausschüsse des Jahres 1945 – Die Bremer Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus“; Kurt Schneider: „Leipzig 1945: ‚Für Frieden – Freiheit – Brot!‘ Die antifaschistische Organisation NKFD für einen demokratischen Neuaufbau“; Andreas Diers: „Die politischen Schulungen des Linkssozialisten Wolfgang Abendroth in der ägyptischen ‚Wüstenuniversität’ und im britischen ‚Wilton Park’ in den Jahren 1945/46“.

Die Rolle weiterer sozialistischer Kräfte
Das von P. Brandt eröffnete Gebiet setzt Jörg Wollenberg mit dem Blick auf sozialistische Persönlichkeiten, Gruppierungen und Initiativen innerhalb und neben den Großorganisationen fort: „Zum Scheitern der Nachkriegspolitik der demokratischen Sozialisten nach 1945“. Es geht um Emigranten und Desinteresse an ihrer Rückkehr, um 1931 aus der SPD ausgeschlossene ehemalige Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) sowie unerwünschte jüdische Intellektuelle und Gewerkschafter. Franz L. Neumann, als Emigrant in den USA Autor der antifaschistischen Analyse und Darstellung „Behemoth“ und Rechtsprofessor an der Columbia University in New York, übte „Kritik am Reformismus der SPD und an der Moskauorientierung der KPD“: „Dass viele seiner einstigen Mitarbeiter auch nach 1945 nichts dazu gelernt hatten und mit Hans Böckler, Carl Severing, Walter Freitag und Paul Löbe glaubten, dort weiter machen zu können, wo sie 1933 durch die Selbstpreisgabe der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung aufgehört hatten, das machte Neumann mit anderen Repräsentanten des Exils zu späten, wenn nicht gar vergeblichen Heimkehreren.“ (S. 170) Wollenberg skizziert Positionen von Willy Brandt, Klaus Mann („dessen Arbeiten zu seinen Lebzeiten in der BRD nach 1945 keinen Verleger fanden“) und Hermann Brill ebenso wie das Scheitern der Volksfrontbündnisse und das Totschweigen der Buchenwalder Programme.

Unterschiedliche Sichten in Ost und West
„Der 8. Mai 1945 – Ein Jahrestag und seine Interpretationen in der DDR und in der BRD“ – darunter erinnert Harald Wachowitz an die jahrzehntelange Weigerung der etablierten Parteien und führenden Politiker der Bundesrepublik, insbesondere der CDU/CSU, den Befreiungscharakter und weltgeschichtlichen Rang dieses Datums anzuerkennen. Die entgegengesetzten antifaschistischen Traditionen in der BRD werden erwähnt, hätten jedoch – einschließlich bemerkenswerter Initiativen und Veröffentlichungen – eine stärkere Berücksichtigung verdient. Die seitherige Entwicklung hat ihre Positionen wie die der DDR zu diesem Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts bestätigt. Unrichtig ist die Aussage, die Bundesrepublik sei mit „dem Tag der Verkündung des Grundgesetzes“ entstanden (S. 196); das erfolgte vielmehr erst mit der Konstituierung des Bundestages am 7. September 1949. Zu ergänzen wäre, dass erstmals in der Geschichte der BRD ein Antrag auf einen „Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus“ – am 8. Mai – von der Gruppe der PDS 1997 im Bundestag eingebracht wurde. Er verfiel – bestimmt vom dünkelhaften Geist der deutschen Rechten – der reflexhaften Ablehnung durch die Mehrheit. Das wiederholte sich im Vorfeld des 70. Jahrestages und dabei blieb es bis heute. Immerhin haben Mitte-Links-Regierungen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen inzwischen diesen Gedenktag je für ihr Bundesland beschlossen. Die entsprechende Herausforderung steht für den Bund sowie die übrigen Bundesländer weiterhin im Raum.

Geschichtsverständnis – Anspruch und Wirklichkeit
Anschließend findet sich die Replik „Geschichtsverständnis – Anspruch und Wirklichkeit“ von Heinz Engelstädter. Die in weltgeschichtlicher Perspektive und mit geschichtsphilosophischem Anspruch konzipierten Darlegungen muten den Rezensenten begrifflich missverständlich und gedanklich konfus an. Argumentatives und Exemplarisches erscheinen wiederholt als zufällig eingefügt und wenig schlüssig für eine vom Autor offenbar angestrebte komplexe Darstellung. Das betrifft beispielsweise das Bemühen, „geschichtliche Realität“ und „historische Wirklichkeit“ als wesensgemäß unterschiedene Kategorien zu fassen. Das folgende Extra wurde dem Katalog einer Ausstellung von 2010 über kulturpolitisches und künstlerisches Neubeginnen nach 1945 entnommen. Drei knappe Rückblicke des Slawisten und wissenschaftlichen Bibliothekars Heinz Sommer, des Philosophen Roger Reinsch sowie des Historikers und Redakteurs Günter Wehner schließen als Erinnerungen von Zeitzeugen die Texte des Bandes ab.
Es ist zu ergänzen, dass unter der seit Anfang der neunziger Jahre staatlich und parteipolitisch massiv betriebenen geschichtsideologischen Indoktrination bis in linke Kreise hinein geschichtsrevisionistische und totalitarismustheoretisch inspirierte Sichtweisen Einfluss gewinnen. Die Geschichtspolitik der seit Ende 2014 in Erfurt regierenden Linkskoalition von „Die Linke“, SPD und Grünen liefert dafür drastische Belege. Die für sich genommen verdienstvolle Initiative für den Gedenktag 8. Mai in Thüringen wurde im Landtag mit einem Antrag unterbreitet, in dessen Begründung sich kein Wort über die Leistungen und Opfer der Antihitlerkoalition sowie des weltweiten antifaschistischen Widerstandes findet, keinerlei Aussage auch über die „Zweite Schuld“ (R. Giordano) der Bundesrepublik und die dafür verantwortlichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Übernommen wurde die Denunziation der DDR und ihres konstitutiven Antifaschismus. Dessen grundsätzliche Anfeindung – wie auch der erklärt antifaschistischen Kräfte und Organisationen in der Bundesrepublik – erwuchs aus den restaurativen Ursprüngen und gesellschaftlichen Grundlagen der Bundesrepublik und blieb Komponente ihrer politischen Ideologie.

Fazit
Der Schwerpunkt der Sammlung liegt bei linken und damit insbesondere antifaschistischen Bewegungen, Parteien, Gruppen und Persönlichkeiten. Auch wenn das mit dem Einschluss der SPD oder der Frauenpolitik relativ weit gefasst ist, sind angesichts des im Buchtitel erhobenen Anspruchs die geistige Verfassung und Umorientierung der restaurativen Kräfte unzureichend berücksichtigt. Einige Aspekte dazu berühren R. Holze/R. Zilkenat sowie G. Benser. Immerhin geht es dabei um Erfahrungen, wie konservative Kreise – nicht zuletzt Rechtsintellektuelle und maßgebliche Politiker – in einer Phase ihrer geschichtlichen Defensive und tiefen geistigen Krise reagieren. Schließlich gelang es ihnen in den Westzonen und früher Bundesrepublik, bald wieder die geistige Hegemonie zu erlangen. Sie begleiteten und komplettierten ideologisch frühzeitig und auf weite Sicht wirksam sozioökonomische und machtpolitische Kontinuitäten. Gegenkräfte – nicht zuletzt der antifaschistische Impuls, friedenspolitische Erfordernisse und emanzipatorische Bestrebungen der Epoche – wurden zurückgedrängt und langfristig eines nennenswerten Einflusses auf gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidungen und Weichenstellungen beraubt.
Übereinstimmend lässt sich aus dem geschichtlichen Material wie der Beurteilung durch die Autoren resümieren: Es gab keine „Stunde Null“ und was gelegentlich darunter verstanden oder gedeutet wird, vermag diese Etikettierung der historisch-politischen Zäsur von 1945 weder hinsichtlich der unmittelbaren Vorgeschichte noch der Übergänge und den daraus folgenden Wegen zu begründen und zu rechtfertigen. Insgesamt bestätigt der Band die Schlüsselrolle der Zäsur von 1945 in der deutschen Geschichte und in seitherigen Geschichtsbildern. Er offeriert wesentliche und bereichernde Beiträge, dies in wichtigen Triebkräften, Leitideen und Kontroversen, auch objektiv wie subjektiv widerspruchsvollen Prozessen, zu begründen und nachzuweisen.

1945 – Eine „Stunde Null“ in den Köpfen? Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus. Rainer Holze, Marga Voigt (Hrsg.), edition bodoni, o. O. 2016, 269 Seiten.

 

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