Aufruf zur Begrüßungsdemonstration für den Reichsrätekongreß

„Aufruf der „Roten Fahne“ vom 16. Dezember 1918 zur Massendemonstration anläßlich des 1. Reichsrätekongresses

Heute Montag große Massendemonstration!

Arbeiter Berlins! Genossen! Heraus aus den Betrieben!

Es gilt, den Zentralrat der A.- und S.-Räte ganz Deutschlands würdig zu begrüßen. Es gilt, den entschlossenen revolutionären Willen des Berliner Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Heraus auf die Straße zur Massendemonstration für folgende Forderungen:

1. Deutschland einige sozialistische Republik.
2. Die ganze Macht den A.- und S.-Räten.
3. Der vom Zentralrat gewählte Vollzugsrat der A.- und S.-Räte als höchstes Organ der Gesetzgebung und Regierungsgewalt.
4. Beseitigung des Ebertschen Rats der Volksbeauftragten.
5. Sofortige energische Durchführung aller zum Schutze der Revolution erforderlichen Maßnahmen durch den Zentralrat, vor allem: Entwaffnung der Gegenrevolution, Bewaffnung des Proletariats, Bildung der Roten Garde.
6. Sofortiger Aufruf des Zentralrats an die Proletarier aller Länder zur Bildung von A.- und S.-Räten zwecks Durchführung der Aufgaben der sozialistischen Weltrevolution.

Heute treten die Delegierten der Arbeiter- und Soldatenräte aus ganz Deutschland zusammen. Es ist der Tag, an dem die Hoffnung von Millionen lebender Proletarier und der letzte Wunsch von abermals Millionen, die ihn als ihren letzten mit ins grab genommen haben, in Erfüllung gehen kann. Es ist das erste Mal, daß die Vertreter von ganz Deutschland, die Arbeiter und Soldaten, für sich und als Klasse organisiert auf die politische Bühne treten, das erste Mal, daß die Proletarier von ganz Deutschland sich selbst, in diesem Zentralrat verkörpert, einheitlich kämpfen und streiten sehen.
Und werden sie sich als Sieger sehen?
Das ist die Frage, die uns heute bewegt. Der Feind, den das Proletariat heute zu besiegen hat, ist ein gefährlicher Fein, es ist keiner, der mit offenem visier als Feind sich gibt, es ist einer, der aus den eigenen Reihen sich erhebt, der den Zweifel sät in die Reihen der Proletarier. Dieser Feind hat ein furchtbares Werk vollbracht. Seit Wochen war er tätig. Er hat den Proletariern in Stadt und Land, in Bluse und Soldatenrock ins Ohr geflüstert, daß sie es nicht seien, daß sie es nicht sein können, die das gewaltige Werk der Befreiung der Menschheit vollbringen sollen. In tausend Stimmen hat er es geflüstert, er hat ihnen den Teufel der Anarchie an die Wand gemalt, er hat Lügen aus dem Ausland bezogen und neue hinzuerfunden, um dem Proletariat zu beweisen, daß seine Organisation zum Frieden nicht führen könne. Die Regierung Ebert-Haase hat alles getan, um dem Proletariat den Glauben an die Kraft der Räte und den Sieg der Revolution zu nehmen. Und ihr eifrigstes Bestreben war, die größte Revolution der Welt ausklingen zu lassen in einer Kapitulation des Proletariats vor Bourgeoisie, in einem Kniefall vor dem Kapitalismus. Das wäre es, wenn das Proletariat, auf seine Räteverfassung verzichtend oder sie zur Ohnmacht verdammend, zustimmt der Nationalversammlung und so der Bourgeoisie abermals das Zepter der Herrschaft überreicht mit den Worten: Nimm du es hin, meine Kräfte sind zu schwach dafür.
Es gibt Augenblicke, in denen es scheint, als ob in ihnen das Geschick vieler Generationen sich entscheide. Solch ein Augenblick kann heute sein. Freilich, wir verkennen nicht die Möglichkeit, daß unter dem Drucke einer verräterischen und verlogenen Agitation einer Mehrheit der Delegierten die Größe des augenblicks nicht zum Bewusstsein kommt, daß sie schwankend wird und sich selbst und ihre Klasse vergißt.
Ihnen und allen denen aber, die die Größe und Stunde erkannt haben, möchten wir noch einmal die Bedeutung ihrer Sendung vor Augen stellen: Wenn sie heute die Übertragung der Macht auf das Bürgertum durch eine Nationalversammlung ablehnen und die Herrschaft der Proletariats durch die Räte aufrichten, so werden sie in Jahrtausenden noch gelten als die ersten, die die Befreiung des deutschen Proletariats zur Tat gemacht. Und alle Lebenden, die unterdrückt und versklavt sind, werden in ihnen ihre Hoffnung und Zuversicht sehen.
Denn täuschen wir uns nicht. Nicht nur die Augen Deutschlands, die Augen der Welt sind heute auf sie gerichtet. Als am 5. Mai 1789 in Versailles die Versammlung der damals revolutionären Klasse, der Bourgeoisie, als ihr Organ, der Nationalversammlung, zusammentrat, da war der Blick der Bourgeoisie der ganzen Welt auf sie gelenkt, und die Delegierten hatten das Bewußtsein der Größe dieser Stunde und wußten, daß sie mit jedem ihrer Worte ihren Klassengenossen der ganzen Welt die Worte der Hoffnung und der Aufrichtung zuriefen.
Und so auch heute. Hat auch tausendmal die deutsche offizielle Sozialdemokratie, die Ebert und Scheidemann, in der Internationale abgewirtschaftet, hat auch tausendmal das deutsche Proletariat an seinen proletarischen Brüdern in der ganzen Welt sich versündigt: doch ist das deutsche Proletariat, zumal jetzt in der Stunde seines Kampfes, der Stern geblieben, nach dem die Proletarier aller Länder ihre Schritte lenken.
Das deutsche Proletariat, der jetzige Zentralrat kann und muß den ersten Schritt zur Wiederaufrichtung der Internationale tun: Er muß, indem er mutig den Kampf gegen den Kapitalismus aufnimmt, weiterhin das Zeichen geben, daß die Stunde für die gemeinsame Befreiung der Arbeiter aller Länder gekommen ist.
Sie mögen auch hierin gedenken, mit welcher Zähigkeit und Größe die Bourgeoisie ihre Aufgabe erfasste, als sie die revolutionäre Klasse war, sie mögen gedenken der im Ballhaus in Versailles Versammelten, di zu dem feierlichen Schwur sich erhoben, daß sie nicht auseinandergehen würden, bevor sie nicht Frankreich gerettet hätten.
Doch was sind alle Delegierten oder alle Räte ohne die gewaltige Masse der Proletarier hinter ihnen? Ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Die Massen selbst müssen auf dem Plan erscheinen. Ihr Schicksal wird ja jetzt geschmiedet. Sie müssen sich mit den Räten vereinen, sie müssen zeigen, daß sie leben wollen und daß, über alle Schwankenden und Zagenden hinweg, sie begriffen haben, daß es ihr Schicksal ist, um das gekämpft wird.
Nicht einzelner menschliche Schwäche und Zaudern können das Werk der Revolution vernichten. Vernichtet werden könnte die Revolution nur, wenn das Proletariat sich selbst aufgäbe. Wenn sie, die Proletarier, den Tag begriffen haben, wenn sie beseelt vom Willen zum Sieg und entschlossen zur Tat sind, dann muß die Revolution siegen.
Und darum: Proletarier heraus!

Auf zur Massendemonstration1
Hoch die Revolution!
Hoch der Sozialismus!
Arbeiter! Heraus aus den Betrieben!“

Die Novemberrevolution und die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschland 1918/1919 in Berlin, Rudolf Dix und Brigitte Berlekamp, 1988

 

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