Neues Deutschland am 06. Mai 2016
Manfred Weißbecker: Zur geistigen Situation 1945
In einer Zeit, in der die medial betriebene Nutzung von Geschichte für jeweils aktuelle Politikziele wellenartig von Jahrestag zu Jahrestag hüpft, scheinen Publikationen zur jeweils "vorletzten" Themenwelle verspätet, wenn nicht gar überholt zu sein. Dies indessen sollte bei einer der wesentlichsten Zäsuren des 20. Jahrhunderts nicht zutreffen - der vorliegende Band belegt dies. Zu gewichtig ist einerseits das Thema, andererseits aber ist es lesenswert, was Herausgeber und Autoren zu sagen für notwendig halten. Geschrieben wird gegen jene wirkungsmächtige Deutungen, die den Sieg über den faschistischen Mächteblock immer noch relativieren und diskreditieren oder ihn mit dem Leiden der Deutschen aufrechnen.
Weit verbreitet ist ebenso die Auffassung, der 8. Mai 1945 stelle in der deutschen Geschichte eine "Stunde Null" dar. Diesen imaginären Nullpunkt gab es nicht. Mit Recht spricht Günter Benser von einem "Ensemble von Brüchen, Übergängen und Rückgriffen auf vorfaschistische Verhältnisse" (S. 33). Es gab ihn erst recht nicht im subjektiven Verständnis der Realität. Letzteres, bezeichnet als "geistige Situation", zu untersuchen war im April des vergangenen Jahres Anliegen einer Veranstaltung des Berlin-Brandenburger Bildungswerkes e.V. und des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V.. Ein Jahr nach dem 70. Jahrestag der Befreiung liegt nun das Ergebnis vor - problemreich, quellengesättigt, aufschlussreich sowie dazu anregend, sich ebenso mit dem Denken und Verhalten von Menschen in den anderen großen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen.
Wer weiß, wie schwer die geistige Situation unserer Gegenwart zu bestimmen oder gar zu erklären ist , obwohl doch zahlreiche Ergebnisse gezielter Umfragen, statistischer Erhebungen und deutbarer Wahlergebnisse vorliegen, der hat dem Unternehmen, dies für das Jahr 1945 und die Zeit unmittelbar danach zu tun, von vornherein Hochachtung zu zollen. Nach den beiden einleitenden Beiträgen - sie gelten den Ursachen 30. Januar 1933 und ihrer Spiegelung im zeitgenössischen Verständnis des 8. Mai 1945 (Rainer Holze / Reiner Zilkenat) bzw. der Frage, inwieweit das Jahr 1945 eine Zäsur von weltgeschichtlichem Rang darstellt (Günter Benser) - befassen sich weitere 15 Autoren mit speziellen Aspekten. Da finden sich interessante, weil außerordentlich informative und geschichtliches Denken befördernde Beiträge zu strategisch-taktischen Überlegungen von Sozialdemokraten (Peter Brandt) und Kommunisten (Jürgen Hofmann), ferner detaillierte Ausführungen zur Frauenpolitik nach der Befreiung (Gisela Notz), zum Fortwirken traditioneller Denkweisen in der Intelligenz, die dennoch oft ein praktisches Mitwirken an notwendigen Veränderungen nicht ausschlossen (Günter Prokop). Aufschlussreich befasst sich Jörg Roesler mit der schwierigen Situation der damaligen Flüchtlinge, wobei er aufschlussreiche Vergleiche zwischen dem Geschehen in der Sowjetischen und in der Britischen Besatzungszone anstellt. Günter Benser erörtert in seinem zweiten Beitrag am Beispiel der Bremer Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus die Aktivitäten jener antifaschistischen Ausschüsse, die basisdemokratisch organisiert waren und oftmals quer zu den Parteien lagen. Kurt Schneider würdigt das in Leipzig wirkende Nationalkomitee Freies Deutschland sowie das Wirken Fritz Selbmanns im Antifaschistischen Block der Stadt. Wolfgang Abendroths Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit faschistischem Denken junger deutscher Kriegsgefangener im Rahmen seiner legendenumwobenen Lehrtätigkeit an der sogenannten Wüstenuniversität in Ägypten werden von Andreas Diers gewürdigt. Jörg Wollenberg untersucht das Scheitern demokratischer Sozialisten, darunter vor allem das von Hermann Louis Brill, deren konzeptionelle Vorstellungen über einen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Neuaufbau nicht in die Rahmenbedingungen eines bereits sehr früh begonnenen Kalten Krieges der Siegermächte passten.
Persönliche Rückblicke auf Ereignisse des Jahres 1945 bieten Heinz Sommer und Roger Reinsch, während Günter Wehner Aufsätze von Schülern über ihre Erlebnisse im April und Mai 1945 vorstellt, die er im Landesarchiv Berlin fand. Obgleich der Band dem Denken und Fühlen unterschiedlicher Gruppen und Personen im Jahre 1945 gewidmet ist, wurde mit Recht auch ein beachtenswerter Beitrag aufgenommen, der sich mit dem Umgang beider deutscher Staaten mit dem 8. Mai befasst. Harald Wachowitz behandelt die Unterschiede zwischen dem Gedenken in der DDR und dem bis zur bekannten Rede Richard von Weizsäckers vorherrschendem Nichtgedenken in der BRD. Trotz mancher Veränderung in den sieben Jahrzehnten nach dem "Tag der Befreiung" sei, so seine Schlussfolgerung, auch heute die Diskussion um ihn nicht beendet.
Wie wahr, schaut man gegenwärtig auf das neuerliche Aufleben völkisch-rassistischer Parolen, auf das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und auf die Zunahme neonazistischer Aktionen mit erkennbar zur Schau gestelltem Kult um Hitler. Erwartungen und Hoffnungen auf eine Zukunft ohne Kriege und Rassismus - durchaus vergleichbar mit denen vieler Menschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - sowie entsprechende Aufbruchsstimmungen wären nicht allein wünschenswert, sondern dringend erforderlich.
Rainer Holze und Marga Voigt (Hrsg.): 1945 - Eine "Stunde Null" in den Köpfen? Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus. edition bodoni 2016, 269 S., ISBN 978-3-940781-70-3