Prof. Heinz Niemann im Fachjournal "Arbeit - Bewegung - Geschichte. Zeitschrift für historische Studien" (2017/I, S. 193 - 196).

Eine ,,Stunde Null" in den Köpfen. Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus. Rainer Holze, Marga Voigt (Hrsg.) edition bodoni, 269 S., ISBN 978-3-940781-70-3, 18,- €.

In der von Marga Voigt und Reiner Zilkenat seit 2014 herausgegebenen Reihe Zwischen Revolution und Kapitulation - Forum Perspektiven der Geschichte stellen in diesem Band 2 kompetente und meist als (jugendliche) Zeitzeugen besonders berufene Autoren ihre Sicht auf ein in der bisherigen Geschichtsschreibung vernachlässigtes Thema zur Diskussion, um für die Erinnerungskultur der Deutschen den ihm gebührenden Platz anzumahnen, ergänzt durch drei persönliche Rückblicke.
Die Veranstalter der diesem Band zugrunde liegenden (übrigens einzigen) Konferenz zum 70. Jahrestag des Kriegsendes hatten bewusst die Formulierung von der "Stunde Null" gewählt, die wohl ausschließlich der in Westdeutschland lebenden Nachkriegsgeneration als Synonym für Niederlage nicht nur geläufig, sondern verinnerlicht war, wie sich noch in der Auseinandersetzung über die zum 40. Jahrestag vom damaligen Bundespräsidenten erstmals vertretene Wertung des 8. Mai 1945 als >Tag der Befreiung< zeigte. Die westliche Erinnerungskultur hatte den beteiligten Deutschen (Tätern wie Mitläufern) mit der >Stunde Null< ein probates Therapeutikum verordnet, das es ihnen erleichterte, sich von der nazifaschistischen Vergangenheit zu distanzieren und sich zugleich auf das Neue einzulassen. Die Geschichtswissenschaft, sieht man von singulären Positionen eines reaktionär-nationalistischen Gerhard Ritter ab, für den mit der Niederlage und bedingungslosen Kapitulation gleich die deutsche Nationalgeschichte endete, stützte das >Stunde Null<-Idiom mit dem multivalenten Begriff von der >Zäsur<. Beides eröffnete der von den Zeitzeugen mit mehr oder minder gutem Gedächtnis und persönlichen Interessen getragenen Erinnerungswelle alle Tore zur Prägung der Erinnerungskultur, unter der ein historisch-politisches Verständnis des Geschehens verloren gehen konnte und mindestens als 25 Jahre lang auch ging. Anders im Osten, wo ein heilsamer Zwang bei einer wachsenden Mehrheit allmählich die Erkenntnis reifen ließ, dass der 8.Mai Befreiung war und die Chance eröffnete, einen Neuanfang mitzutragen, der nicht nur die Rückkehr in die europäische Völkerfamilie bedeutete, sondern zugleich eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit anstrebte. Dazu gibt der Beitrag von Harald Wachowitz mit einem Überblick zur Widerspiegelung des 8. Mai in der bundesdeutschen Presse eine treffende Antwort. Ganz nebenbei zwingt er den Leser, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, ob er die zwei Staaten in der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte als zwei legitime Antworten auf den Faschismus akzeptiert. Wie umstritten dies selbst bei den Linken ist zeigt die Position in der thüringischen Linkspartei, die das Diktum vom >Unrechtsstaat< übernahm und deren Regierung den 17. Juni 1953 für würdiger als Feiertag betrachtet als den 8. Mai 1945.
Die herrschende Historiographie und Politik, die nun zwar die >Stunde Null< sowohl als Niederlage wie Befreiung akzeptiert, wenn für den Osten auch nur als kurzfristige Befreiung bis zur Installation der >zweiten Diktatur<, suggeriert inzwischen einen inneren Zusammenhang von Befreiung im Westen (1945) mit dem Untergang der DDR (1990), wodurch erst wirklich der Zyklus von Krieg, Völkermord und Diktatur in Europa endgültig ein Ende gefunden habe und ein neuer von Frieden, Wohlstand, Freiheit und Gemeinschaft begann.1 Dieser Art von Erinnerungskultur wollten die Autoren zumindest punktuell ihre andere Sicht entgegenstellen, was eine ungewollte Aktualität angesichts gegenwärtiger ideologischer Erscheinungen gewann. Richtigerweise steht am Anfang ein Beitrag (von Rainer Holze und Reiner Zilkenat), der den Weg in die Nazi-Diktatur und die Rolle der herrschenden Eliten in Wirtschaft, Politik, Militär und Ideologie erinnerte. Günter Benser stellt die ergriffenen und verspielten welthistorischen Chance infolge der Vernichtung des Faschismus heraus. Gisela Notz widmete ihren Beitrag der Rolle der Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit kritischem Blick auf die sozialdemokratische Frauenpolitik. Peter Brandt zeichnet konzeptionelle Vorstellungen verschiedener sozialdemokratischer Gruppen für einen Neuanfang nach, vernachlässigt aber den Einfluss der Gruppe um Vogel und Ollenhauer im Londoner Exil. So zutreffend eine seiner am Schluss formulierten Position ist, dass sich die in der DDR vollziehende sozialistische Entwicklung immer mehr von den Vorstellungen linker Sozialdemokraten unterschied, deren völlige Ergebnislosigkeit war aber keine Folge des real versuchten ostdeutschen Frühsozialismus.
Jürgen Hoffmann widmet sich den Auseinandersetzungen in der KPD über Inhalte und Methoden des Kampfes mit der geistigen Hinterlassenschaft des Hitler-Regimes und seinen Parteigängern und aktiven Mitläufern aus der Bürokratie, der Intelligenz und Künstlerschaft. Bei ihm wird (wie bei dem instruktiven Beitrag von Siegfried Prokop über die Rolle des Kulturbundes in der antifaschistischen Erziehungs- und Kulturpolitik) ein nicht von den Autoren verschuldeter Mangel sichtbar: das Fehlen valider Daten über Denkweisen und Wertevorstellungen dieser Schichten und insbesondere über die ambivalenten weltanschaulichen Wirkungen der Niederlage. Gerade das Fehlen solcher Quellen - sieht man einmal von den tendenziös beeinflussten und methodisch fragwürdigen OMGUS-Umfrageberichten der amerikanischen Militärregierung aus ihrer Besatzungszone ab - hätte vielleicht zu einem Beitrag über den Sonderfall der >Freien Republik Schwarzenberg< anregen sollen, auch weil dort die rasche Veränderung der geistigen Situation unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungsmacht und den Folgen der Reparationspolitik zu illustrieren gewesen wäre.
Jörg Roesler schließt so weit wie möglich eine Lücke mit der vergleichenden Darstellung des Umgangs mit den Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten in der sowjetischen und britischen Besatzungszone. Auch hier zeigt sich das Fehlen von Quellen, die das Denken von fast 10 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene wiedergeben, weil dies z.T. weitreichenden Einfluss auf die damalige geistige Situation und lange Zeit auf die ganze spätere Erinnerungskultur hatte.
In einem zweiten Beitrag rückt Benser die deutschlandweit spontan entstandenen örtlichen Antifa-Ausschüsse ins Bild, die zwar - wie er am Beispiel Bremens und Kurt Schneider es mit seinem instruktiven Beitrag über das Leipziger NKFD zeigen - anfänglich nur eine verschwindende Minderheit repräsentierten, aber Antifaschismus als den angeblichen >Gründungsmythos< der DDR widerlegen.
Als besonders diskussionswürdig erweist sich dem Rez. der umfangreichste Artikel von Jörg Wollenberg >Zum Scheitern der Nachkriegspolitik der demokratischen Sozialisten nach 1945<, der detailreich und in Vielem zutreffend zugleich eine Reihe eigenwilliger Wertungen und Sichten zeigt, die der mit dem Gegenstand vertraute Leser mit unterschiedlichen Publikationen in (gern polemischer) Beziehung gesehen hätte. So fehlt etwa bei der Würdigung der Rolle Hermann Brills, die dadurch ziemlich überhöht erscheint, ein Blick auf die ganze komplizierte und differenzierte Situation der sozialdemokratischen Linken, wie sie sich sehr plastisch in der von Helga Grebing 1984 herausgegebenen Arbeit >Entscheidung für die die SPD. Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten 1944-1948< widerspiegelt.
Interessante Splitter steuern Andreas Diers mit der Würdigung eines wenig bekannten Episode aus dem Leben Wolfgang Abendroths als Lehrkraft in Lagern deutscher Kriegsgefangener sowie die Rückblicke von Heinz Sommer (Eine Stunde Null?), Roger Reinsch (Meine persönliche Stunde Null) und Günter Wehner (Berliner Jugend zwischen Krieg und Frieden 1945) bei.
Ein alles in allem instruktiver, anregender Beitrag für die Aneignung einer gemeinsamen deutschen Erinnerungskultur, die mit ihrer >Doppelnatur< von den später Geborenen akzeptabel werden sollte.

Heinz Niemann

1 Ein makabere Höchstleistung liegt mit dem Buch von Hubertus Knabe zum 50. Jahrestag vor: Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland.

 

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