Zum 9. November 1918

Von Wolfgang Abendroth

Vor 50 Jahren wurde durch eine spontane Massenerhebung des deutschen Volkes jene Militärmonarchie zertrümmert, die – militärisch längst geschlagen – im letzten Augenblick versucht hatte, sich durch wenige Konzessionen an die Parlamentarisierungsbestreben der Reichstagmehrheit politisch zu retten.

Die Matrosen, die seit Ende Oktober zum Kampfe angetreten waren, und die Arbeiter der Großbetriebe in den großen Städten, die schon in den ersten Novembertagen in vielen Teilen des Reiches die Macht übernommen hatten, um nun auch in der Hauptstadt durch eine riesige bewaffnete Demonstration das Ende des Obrigkeitsstaates zu vollenden, waren zu jenen Auffassungen zurückgekehrt, die der Majorität der deutschen Arbeiterklasse vor Kriegsbeginn gemeinsam gewesen waren. Sie wußten, daß Kriegsausbruch und Kriegsverlängerung nicht nur die Schuld der Reichsregierung und der Generale gewesen war, sondern die Konsequenz des politischen Herrschaftssystems und vor allem der sozialökonomischen Macht, die in den Händen der Großindustriellen, der Großbanken und Großagrarier gelegen hatte. Deshalb war ihnen ganz klar, daß man nicht nur sofortigen Frieden, sondern ebnso ein anderes politisches System und die Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung erreichen mußte, wenn man auch für die Zukunft die Widerholung einer Katastrophe verhüten wollte, wie sie die letzten Juli- und die ersten Augusttage 1914 herbeigeführt hatten.

Gewiß, damals hatten die Massen sich vom Verteidigungswahn verführen lassen und waren dem „patriotischen“ Taumel für längere Zeit erlegen; eben deshalb lag es zunächst einem großen Teil der agierenden Bevölkerung fern, den Führern der Mehrheitssozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung allzu sehr zu verübeln, daß sie vier Jahre zuvor den gleichen Fehler gemacht hatten. Doch ließen sie sich von deren Parolen, auch jetzt noch ruhig zu bleiben, auf eigene Aktionen zu verzichten und Waffenstillstandsabschluß und relative Parlamentarisierung durch eine modifizierte Reichsregierung geduldig abwarten, nun nicht mehr fangen. Ihre Mehrheit glaubte jedoch, daß der Anstoß der Massenaktionen genügen werde, diese Führungen künftig wieder an die Überzeugungen zu binden, die einst das Erfurter Programm zum Ausdruck gebracht hatte. Auf die Zerschlagung der Monarchie und die Aktion selbst wollten sie aber unter keinen Umständen verzichten und ließen deshalb den Aufruf der Generalkommission der Gewerkschaften unbeachtet, kampflos in den Betrieben zu bleiben. Daß die mehrheitssozialdemokratischen Führer sich am 9. und 10. November 1918 so rasch ihrem Drängen fügten, daß ihre Vertreter aufhörten, Staatssekretäre des Reichskanzlers Prinz Max von Baden zu sein, daß der Reichskanzler für einen halben Tag, Friedrich Ebert, sich aus dem Regierungschef eines Kaiserreiches in ein Mitglied des Rates der Volksbeauftragten transformierte, schien dieser Illusion recht zu geben, die SPD habe zu ihrer Tradition zurückgefunden. Deshalb ist es sicherlich falsch, wenn die Mehrheit der Historiker annimmt, diese Revolution haben nichts intendiert als das, was ohnehin schon feststand: nämlich die Beendigung des Krieges und die Parlamentarisierung des geschlagenen Kaiserreiches. Zwar hatten die Volksmassen keine völlig klaren Vorstellungen davon, was sie im einzelnen als nächste Schritte wollten. Aber eins stand für sie fest: der monarchische Staatsapparat, nicht nur dessen personelle Spitzen, hatte abzutreten und das gesellschaftliche System mußte sozialistisch werden. Das Beispiel der Oktoberrevolution in Rußland hatte mit diesen Grundzielsetzungen gezündet. Wenn auch das Resultat der gesellschaftlichen Kämpfe, die nun eingeleitet wurden, am Ende nur eine bürgerlichdemokratische Republik blieb, eine Republik zudem, die bei aller formelldemokratischen Verfassung einen politischen Apparat behielt, dessen Träger auch diese Republik nicht wollten, sondern möglichst bald die Scharte wieder auswetzen wollten, die der 9. November 1918 den herrschenden Klassen geschlagen hatte, das Volk hatte an diesem Tage und auch in kommenden Monaten mehr gewollt. Es forderte Demokratie und Sozialismus, damit Rüstungstaumel und Krieg für immer verhütet bleiben sollten.

Aber die Volksmassen hatten keine Führung und glaubten ihren früheren Führern. Eben deshalb unterstützten sie zunächst auch jene Parole, die von der Gruppe um Ebert, Scheidemann, Wels und Noske sogleich ausgegeben wurde, die Parole der Einheit der sozialdemokratischen Parteien. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß Friedrich Ebert schon am gleichen Tage seine Verbindung zur Obersten Heeresleitung wieder aufnahm und die Parteimaschine der Mehrheits-SP systematisch auf ein Bündnis mit Bürokratie und Offizierskorps gegen sie selbst einfunktionierte, wie es tatsächlich geschehen ist. Sie begriffen nicht, daß baldige Wahlen zur einer Nationalversammlung nach der Niederwerfung klarersehender Teile der Arbeiterbewegung fast unvermeidlich zu der Entwicklung führen mußte, die sich seit Anfang 1919 dann durchgesetzt hat, zur Wiederherstellung der politischen Macht und zur Sicherung der ökonomischen Position der herrschenden Klassen, die auch vor dem 9. November 1918 das Deutsche Reich beherrscht hatten.

Die mehrheitssozialdemokratische Gruppe im Rat der Volksbeauftragten hat die Chance sofort erkannt und voll genutzt, die ihr durch diese Situation geboten wurde. Sie wußte zwar nicht theoretisch, aber sie hat doch dumpf empfunden, daß revolutionäre Prozesse stets zunächst mit einer Periode beginnen, in der die Klasse, die den Kampf um die Durchsetzung ihrer Ziele aufnimmt, diese Ziele zwar durchaus in ihrer allgemeinen Richtung, aber nicht in klarer Weise kennt. Es gibt kaum eine Revolution in der Geschichte, in der es nicht eines längeren Lernprozesses dieser revolutionären Klasse bedurft hätte, bis sie in widerspruchsvollen Kämpfen am Ende doch ihre Ziele durchgesetzt, falls sie nicht im Gang der Dinge geschlagen wird und scheitert. Gelingt es den Angegriffenen früher herrschenden Klassen, diesen Lernprozeß so lange zu verzögern, bis sie ihre Machtpositionen wieder aufgebaut und ihr Selbstbewußtsein wieder hergestellt haben, so wird stets die Gegenrevolution und nicht die Revolution der Sieger bleiben.

Das Arbeitsgemeinschaftsabkommen zwischen der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften und der Industrie am 15. November 1918 wurde auf diese Weise der erste deutlich erkennbare Akt der Restabilisierung der Gegenrevolution in Deutschland. Der nächste Versuch, dessen Ziel es war, die Position der Organe der handelnden revolutionären Arbeiter und Soldaten, der Arbeiter- und Soldatenräte, dadurch aufzulösen, daß der Rat der Volksbeauftragten wieder in Normalstrukturen eines funktionierenden bürgerlichen Staates umgewandelt und Friedrich Ebert zum Präsidenten der Republik proklamiert werden sollte, war offenkundig der Tendenz nach zwischen Ebert und der Obersten Heeresleitung bei Zustimmung der hohen Bürokratie vorbereitet. Die Frontdivisionen, die Mitte Dezember in Berlin einmarschieren sollten, um dort die „Ordnung“ wiederherzustellen, kamen jedoch einerseits für den Putsch des 6. Dezember 1918, bei dem zwar viele Arbeiter zusammengeschossen wurde, zu späte, der beabsichtigte Putsch war andererseits illusionär, weil auch die Masse der Frontsoldaten nach Hause wollte und keinerlei Lust verspürte, sich für die Interessen ihrer Offiziere und der herrschenden Klassen gegen die Arbeiter zu schlagen. Am Aufmarsch der Gegenrevolution, der rasch genug im Zeichen des neuen Bündnisses der Führung der MSP mit der hohen Bürokratie, der Obersten Heeresleitung und der Unternehmer eingesetzt hat, hat das nicht geändert.

Die Bildung von gegenrevolutionären Freiwilligenverbänden folgte der Kampf gegen die Volksmarine-Division, der die USP zum Austritt aus dem Rat der Volksbeauftragten veranlaßt hat, und dann die provokatorische Amtsenthebung des von den revolutionären Arbeitern eingesetzten Berliner Polizeipräsidenten, womit die Berliner Januar-Kämpfe eingeleitet wurden. Zwar hatte sich nur ein großer Teil der Berliner Arbeiterklasse vom wirklichen Inhalt der Politik der sozialdemokratischen Führung überzeugt und leistete Widerstand; aber die Formen dieses Widerstandes waren weiterhin nicht nur – wie die Besetzung des Berliner Zeitungsviertels – zufällig und spontan, ohne daß die eben erst gegründete und ebenso spontanen Irrtümern ausgesetzte Kommunistische Partei (Spartakus-Bund) dabei irgendeine führende Rolle zu spielen vermochte, sondern auch insoweit illusionär, als ein großer Teil der revolutionären Arbeiter und ihrer Sprecher glaubte, nun könne der volle Kampf um die Macht beginnen, weil wahrscheinlich auch die Mehrheit der Arbeiter im Reich die Bedeutung der Politik der Reichsregierung begriffen habe. Das war falsch, und deshalb war es unvermeidlich, daß die Gegenrevolution diese Entscheidungsschlacht gewinnen konnte. Sie hat jene Periode eingeleitet, in der durch immer erneuten blutigen Terror in einem Teil des Reiches nach dem anderen die Arbeiter niedergeworfen und eines großen Teils ihrer besten Repräsentanten beraubt wurden. Die deutsche Bourgeoisie hatte hier zum ersten Mal unter Beweis gestellt, daß sie auf alle ihre liberalen und rechtsstaatlichen Traditionen pfiff, wenn ihre Pfründen bedroht erschienen.

Nach dem 15. Januar 1919, dem Tag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, derjenigen Führer der Sozialdemokratie von 1914, die den Illusionen des August 1914 niemals erlegen waren und die Probleme dieser Revolution am klarsten durchschaut hatten, war der Inhalt des Wahlergebnisses des 19. Januar 1919 für die Nationalversammlung vorwegbestimmt. Die deutsche Revolution von 1918 ist als sozialistische Revolution gescheitert. Ihr Nebenprodukt, die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie, die jedoch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse unverändert ließ, konnte nur als vorübergehendes Ergebnis fortbestehen, weil die bürgerlichen Klassen sich auch ihrer und der sozialpolitischen Konzessionen, die sie der MSP hatten machen müssen, wie dieser Sozialdemokratie selbst möglichst rasch entledigen wollten. Die Wurzeln des 30. Januar 1933 liegen im 15. Januar 1919, wie der 15. Januar 1919 seine Grundlage in jenem Bündnis hatte, das die mehrheitssozialdemokratischen Führer bereits am 9. November 1918 abermals mit der OHL und die Gewerkschaftsführer am 15. November 1918 mit den Industriellen eingegangen waren. Der Lernprozeß der deutschen Arbeiterklasse kam zu spät, um diese Entwicklung noch abwenden zu können. Sicherlich gab es in den folgenden Jahren noch manche Chance, den vollen Triumph jener Barbarei zu verhüten, die sich gegenüber allen demokratischen Kräften durch den Mordzug der Freikorps bereits angedeutet hatte und im vollen Verzicht der bürgerlichen Klassen auf rechtsstaatliches Denken schon damals ihren Ausdruck fand. Die Grundprobleme der kommenden Entwicklung waren aber damals bereits gestellt.

Die Bundesrepublik Deutschland hat den Tag, an dem zum ersten Mal auf deutschem Boden für eine längere Periode formell demokratische Verfassungsentwicklungen eingeleitet wurden, nach fünfzig Jahren mit Stillschweigen übergangen. Auch das ist keineswegs ein Zufall. Denn die Weimarer Republik wurde nur durch die revolutionäre Aktion einer Klasse möglich, die mehr gewollt hatte als eine bloße bürgerliche Demokratie, und diejenigen Klassen, die heute diese Bundesrepublik führen, haben damals gegen die Arbeiter gestanden und am Untergang der Weimarer Republik mitgewirkt. So sind sie darauf angewiesen, die Erinnerung an den 9. November 1918 aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen und den wirklichen Gang dieser geschichtlichen Entwicklung durch historische Verfälschungen zu verdecken. Sie sind es doppelt, weil ihnen selbstständiges Handeln der Volksmassen ohne Rücksicht auf alle institutionellen Verfestigungen, eine revolutionäre Aktion der Massen, als der Inbegriff alles Hassenswerten erscheint. Umgekehrt dürfen die Sozialisten den 9. November 1918 nicht aus ihrem Gedächtnis streichen. Das genaue Studium dieses selbständigen Auftretens des deutschen Volkes unter Führung seiner Arbeiterklasse, das geschichtliche Durchdenken der Probleme, die es aufgeworfen hat, bleibt die Vorbedingung dafür, auch in der gegenwärtigen veränderten Welt nach zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg die Methoden zu ermitteln, mit denen ein Rückfall in autoritäre oder faschistische Ausschaltung von Demokratie und Rechtsstaat verhütet werden kann.

Die Andere Zeitung. Hamburg. 07.11.1968