Die gescheiterte Republik der Räte

Tradition und Geist der Revolution

Von Hannah Arendt

Seit 1789 haben sich in jeder Revolution (wenn das Jahr 1848 und auch die Februarrevolution in Paris außer Betracht bleiben) spontan Räte gebildet, ohne daß irgendeiner der Beteiligten je wußte, daß es dies schon einmal gegeben hat, ohne daß es auch nur einem eingefallen wäre, das, was sich spontan ereignete, in Gedanken zu fassen. Im Jahre 1870, als die französische Hauptstadt von der preußischen Armee belagert wurde, organisierte sich die Stadt „spontan in eine federale Körperschaft en miniature“, die dann den Kern der Herrschaft der Pariser Kommune im Frühjahr 1871 bildete. Die spontane, von keinen Parteien geführte Streikwelle in Rußland vom Jahre 1905 brachte sofort eine politische Führerschaft an den Tag, die mit keiner der revolutionären Parteien und sonstigen Gruppierungen in irgendeinem Zusammenhang stand; gleichzeitig organisierten sich die Fabrikarbeiter in Räten, Sowjets, und zwar ausdrücklich zum Zwecke eines repräsentativen Selbstverwaltungssystems. Diese Sowjets, die von keiner Partei in ihr Programm aufgenommen wurden, sind die einzigen, von denen man vielleicht mit Anweiler sagen kann, daß sie eine „Tradtiton“ hinterließen, die sich „dem Bewußtsein der Arbeitermassen stark einprägte“. Jedenfalls tauchte in Rußland, als sich die ersten Unruhen während des Weltkriegs bemerkbar machten, die Idee eines Arbeiterrates sofort wieder auf, und bereits in der Februarrevolution von 1917 bemerkte Trotzki, daß es „trotz der verschiedenen politischen Strömungen innerhalb der russischen Arbeiterschaft war, ‚als ob die Strömungen innerhalb der Organisation selbst (nämlich der Sowjet) außerhalb jeder Diskussion stünde’“.

Als die Bolschewiken mit der Losung: „Alle Macht den Sowjets“ im Oktober 1918 an die Macht kamen, gab es in Rußland eine über das ganze Land gespannte Rätebewegung sowie eine gesamtrussische Räteorganisation, die ihre ersten Kongresse bereits hinter sich hatte und „angesichts des Fehlens eines aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments zweifellos die breiteste demokratische Vertretung Rußland“ darstellte. Ob diese Bewegung dann im letzten Kriegsjahr über die Fronten auf Deutschland übergriff oder ob sie in Deutschland spontan entstand, ist schwer zu sagen. Jedenfalls breitete sich der Rätegedanke nach dem Munitionsarbeiterstreik im Winter 1918 wie ein Lauffeuer im Heere und in den Fabriken aus, wobei entscheidend ist, daß diese Bewegung durchaus neben der revolutionären Agitation radikaler Gruppen verlief.

Für das Volk, also die Soldaten und Arbeiter, die dann die Soldaten- und Arbeiterräte der Jahre 1918 und 1919 bildeten, bedeutete die Rätebewegung erst einmal nicht viel mehr, als daß man sich in einem „Rat“ organisieren müsse, um „Vertrauensleute“ oder „Obmänner“ zu wählen, die die doppelte Funktion haben sollten, die öffentlichen Geschäfte zu besorgen und die Wähler durch regelmäßige Information auf dem laufenden zu halten. Die gewählten Vertrauensleute sollten mit anderen Worten an die Stelle der Regierenden rücken, in welche das Volk kein Vertrauen mehr hatte. Nach dem Zusammenbruch verlangten dann die Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin sofort, daß das Rätesystem den Grundstein der neuen deutschen Verfassung bilden solle; gleichzeitig wurde in Bayern eine Räterepublik ausgerufen, die von vornherein auf die Opposition der „revolutionären“ Parteien, also der Sozialisten und der Kommunisten, stieß. Ach in Berlin war der „Antrag, das Rätesystem zur Grundlage der Verfassung zu erklären“, vor allem auch von der Sozialdemokratie zu Fall gebracht worden, die „eine parlamentarische Demokratie“ verlangte. Das letzte Datum ist schließlich der Herbst 1956, die Wochen der Ungarischen Revolution, die vom ersten Tage ihres Ausbruchs an das Rätesystem wieder spontan etablierte, zuerst natürlich in Budapest, von wo die Bewegung „mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit das ganz Land“ ergriff.

Zählt man diese Daten auf, so stellt man sich leicht eine kontinuierliche Entwicklung vor, die kaum nachzuweisen ist. Gerade die Abwesenheit von Kontinuität und Tradition, das Fehlen jeglichen organisierten und organisierenden Einflusses unterstreicht die eindrucksvolle Gleichartigkeit des Phänomens selbst. Zu ihren hervorstechenden allgemeinen Merkmalen gehört natürlich die Spontaneität ihrer Entstehung – nicht zuletzt weil gerade dies aufs klarste dem Anspruch der Revolutionstheoretiker widerspricht, die meinen, man könne Revolutionen nach einem Modell machen, sie „planen, vorbereiten und mit kalter, wissenschaftlicher Präzision durch Berufsrevolutionäre ausführen lassen“. Daran ist nur so viel wahr, daß, wo immer die Revolution scheinbar siegte, die Ein-Partei-Diktatur, also angeblich die Diktatur des Proletariats, in Wahrheit die der Berufsrevolutionäre, sich schließlich durchsetzte; und das hat noch immer bedeutet, daß die Organe und Institutionen der Revolution schließlich von den „revolutionären“ Parteien erledigt wurden, zumeist in einem Kampf, der erheblich blutiger war als der Kampf gegen die „Konterrevolution“.

Die Räte waren ferner immer mindestens ebenso sehr Ordnungs- und Kamporgane, und es war selbstverständlich gerade der Anspruch, die Keimzelle einer neuen staatlichen Ordnung zu bilden, der den Konflikt mit den Berufsrevolutionären, die in den Räten nur „revolutionäre Übergangsformen“ sahen (Max Adler), zum Ausbruch brachte. Natürlich hatten die Räte keinerlei Absicht, sich mit Diskussion und „gegenseitiger Aufklärung“ über das, was Parteien oder Parlament an Maßnahmen beschlossen hatten, zufrieden zu geben, und sie waren (zum Beispiel in Bayern) auch „keineswegs gesonnen, sich mit der Rolle eines ‚Nebenparlaments’ zu begnügen“; es ist fraglich, ob sie Eisners Vorschlag zugestimmt hätten, sich als „Kontrollorgane“ des gesamten öffentlichen Lebens zu konstituieren, was ja vermutlich auch nur auf eine Spitzeltätigkeit hinausgelaufen wäre. Denn das Hauptmerkmal der Räte war, wie Anweiler sehr richtig hervorhebt, „das Streben nach einer möglichst unmittelbaren, weitgehenden und unbeschränkten Teilnahme des Einzelnen am öffentlichen Leben“. Der große Enthusiasmus für das Rätesystem läßt sich in der Tat nur dadurch erklären, daß „jeder Einzelne sich hier mithandelnd findet und seinen Beitrag in den Ergebnissen des Tages gleichsam vor Augen sieht“. Es gibt immerhin eine ganze Reihe zeitgenössischer Zeugen auf der Linken, denen klar war, daß es sich hier um „eine direkte Wiederbelebung der Demokratie“ handelt, aber sie lehnten sie dennoch einmütig, wenn auch unter verschiedenen Vorwänden, als „Gestaltungsprinzipien einer neuen Gesellschaft“ ab, man prangerte sie zudem nicht selten als reaktionär an.

So erschienen auch die aus dem Volk entstandenen Räte, diese handgreiflichste aller revolutionären Realitäten, den Berufsrevolutionären als ein romantischer, der „ständischen Vergangenheit“ nachjagender Traum (Max Adler), entschuldbar durch die „Naivität“ des Volkes, das den Lauf der Welt noch nicht kennt. Dieser sogenannte Realismus aller Parteiführer von rechts bis links besagte natürlich nur, daß man sich schlechterdings nicht vorstellen konnte, daß es etwas geben könne, das nicht an das Parteiensystem, wie es bestand oder eben noch bestanden hatte, gebunden war. In den Begriffen des Parteienstaats war man aufgewachsen, aus ihm konnte man ohne Mühe eine Ein-Partei-Diktatur theoretisch ableiten; daß die Revolutionen ihre Erfolge weitgehend dem Zusammenbruch dieses Parteiensystems verdankten, spielte in der revolutionären Vorstellungswelt keine Rolle.

Auffallend bei allen Räten, die wir kennen, ist nicht nur, daß in ihnen immer Mitglieder der verschiedensten Parteien friedlich zusammensitzen, sondern daß Parteizugehörigkeit in ihnen überhaupt keine Rolle spielt und es also nicht zur Fraktionsbildung kommt. Die Räte sind bis auf den heutigen Tag die einzigen politischen Organe geblieben, in denen Leute ohne alle Parteizugehörigkeit eine Rolle spielen können. Natürlich mußten sie mit den Parlamenten und parlamentarischen Institutionen sowie auch mit den parlamentarisch gewählten verfassunggebenden Versammlungen aneinandergeraten, da ja auch die extremste Zusammensetzung nichts an der Tatsache ändern konnte, daß sie samt und sonders von der Existenz des Parteiensystems abhingen…

Die Räte bildeten von Anfang an eine tödliche Gefahr für das Parteiensystem überhaupt, und die Feindschaft verschärfte sich, je mehr die aus der Revolution geborenen Räte dazu übergingen, diejenigen Parteien herauszufordern, deren Ziel immer die Revolution gewesen war. Im Sinne einer wirklichen Sowjetrepublik war natürlich die bolschewistische Partei nicht weniger „reaktionär“ als alle anderen Parteien, welche die Revolution vorfand, sie war nur erheblich gefährlicher. Was die rein politische Frage der Staatsform angeht, an der die Räte, in schärfstem Gegensatz zu allen revolutionären Parteigruppierungen, erheblich mehr interessiert waren als an der sozialen Frage, so bildet die Ein-Partei-Diktatur nicht nur das vorläufig letzte Stadium des Nationalstaates, sondern ist vor allem auch die gleichsam logische Konsequenz desVielparteiensystems. Dies dürfte heute, da in den europäischen Demokratien mit Vielparteiensystemen, jedenfalls in Frankreich und Italien, die Dinge sich so verschärft haben, daß „die Grundlage des Staates und die Regierungsform faktisch in jeder Wahl auf dem Spiel stehen“, wie eine Binsenwahrheit klingen …

Es ist bekannt, daß die Vereinigten Staaten und England zu den wenigen Ländern gehören, in denen sich das Parteiensystem bewährt hat. In beiden Fällen handelt es sich um das Zweiparteiensystem, das daher heute oft als ein Heilmittel gegen alle Übel und Schwächen der Parteiendemokratie angepriesen wird. Nun fällt aber in beiden Ländern dieses Zweiparteiensystem mit der Teilung der Gewalten im Staatsapparat zusammen, und der wesentliche Grund für die Bewährung ist natürlich, daß in diesen Ländern die Opposition als eine Art Regierungsinstitution anerkannt wird, was wiederum nur möglich ist, wenn man die Nation nicht für une et indivisible erklärt und nicht der Meinung ist, daß die Trennung der Gewalten Ohnmacht erzeugt, sondern im Gegenteil, daß Macht durch Teilung ständig erneuert und stabilisiert wird. Schließlich ist es noch das gleiche Prinzip, das es England ermöglichte, seine über die ganze Erde verstreuten Besitzungen und Kolonien in einem Commonwealth zu organisieren, und das die britischen Kolonien in Nordamerika befähigt, einen Bundesstaat zu gründen. Trotz aller Unterschiede zwischen den amerikanischen und den englischen Parteien ist das, was sie beide von dem Vielparteiensystem der europäischen Nationalstaaten trennt, das eigentlich Entscheidende; es handelt sich um ein radikal anderes Machtprinzip, das für alle politischen Institutionen der betreffenden Länder konstitutiv ist.

Wollte man die bestehenden Regierungssysteme mit dem Machtprinzip klassifizieren, auf dem sie beruhen, so würde sich sehr schnell herausstellen, daß Ein-Partei-Diktaturen und Vielparteiensysteme erheblich mehr miteinander gemein haben als jede von ihnen mit dem Zweiparteiensystem. Nachdem die Nation während der Französischen Revolution in „die Fußstapfen des absoluten Monarchen“ getreten war, kam in den Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts die Partei an die Reihe, in die Fußstapfen der Nation zu treten. In dieser leider durch keine Revolution unterbrochenen Kontinuität kann es kaum wundernehmen, daß sich alle Übel des Absolutismus: die autokratisch-oligarchische Bürokratie, der böse Mangel an inneren Demokratie und Freiheit, die Neigungen zum „Totalitären“, der Anspruch auf Unfehlbarkeit, in den modernen Parteiapparaten in Europa wiederfinden, während sie in Amerika schlechterdings nicht vorhanden sind und auch in England sich kaum geltend machen.

Nun ist zwar unbestreitbar, daß nur das Zweiparteiensystem sich machtpolitisch wie verfassungsrechtlich bewährt hat, aber es ist anderseits auch nicht zu leugnen, daß es kaum mehr geleistet hat, als eine wirksame Kontrolle auf die Regierenden durch die Regierten zu ermöglichen, und keineswegs Verhältnisse und Institutionen geschaffen hat, in denen der Bürger wirklich an öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen kann…

Das Parteiensystem ist genauso alt wie das Rätesystem; beide sind revolutionären Ursprungs, nämlich die Konsequenz der den Revolutionen zugrunde liegenden Überzeugung, daß alle Einwohner eines Landes Anspruch darauf haben, an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligt zu werden. Im Gegensatz zu den Parteien entstanden die Räte immer direkt aus der Revolution selbst, sie waren die vom Volke spontan gebildeten Aktions- und Ordnungsorgane. Hätte man von der Geschichte der Räte Notiz genommen, so wäre es um die alten Redensarten von den anarchischen, gesetzlosen Tendenzen des Volkes schnell geschehen gewesen; denn wo immer die Räte auf der Bildfläche erschienen, vor allem auch in der Ungarischen Revolution, haben sie sich um die Neuordnung des politischen und wirtschaftlichen Lebens aufs angelegentlichste gekümmert, und nichts lag ihnen ferner, als das Chaos zu begrüßen, nichts mehr am Herzen, als eine neue politische Ordnung so schnell wie möglich auf die Beine zu stellen.

Parteien im modernen Sinne, also nicht die Fraktionen, die es natürlich in allen Parlamenten immer gegeben hat, sind noch niemals während und aus einer Revolution entstanden; sie entstanden nach den großen Revolutionen mit der Ausdehnung des Wahlrechts im neunzehnten und waren vor den Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts voll entwickelt. Ob die Partei sich nun aus der parlamentarischen Fraktion entwickelte oder von vornherein außerhalb des Parlaments entstand, in jedem Fall handelte es sich darum, der parlamentarischen Regierung den notwendigen Rückhalt im Volke zu geben, und niemand hat je daran gezweifelt, daß in diesem Verhältnis von Volk und Parlament die Rolle des Volkes in der Unterstützung des Parlaments besteht und das eigentliche Handeln ein Privileg der Regierung bleibt. Mit der militanten Entwicklung der Parteien, die zur politischen Aktion schreiten, hat der Zersetzungsprozeß des Parteiensystem begonnen, weil sie damit gerade das Parteienprinzip verletzen und ihre Funktion innerhalb der parlamentarischen Regierung unterminierten; mit anderen Worten, die Parteien sind schließlich subversiv geworden, und zwar unabhängig von den jeweiligen Parteiprogrammen oder Ideologien. In diesem Desintegrationsprozeß der parlamentarischen Regierungen – in Italien und Deutschland nach dem Ersten, in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg – hat sich immer wieder gezeigt, daß auch die Parteien, die parlamentsfromm den status quo unterstützten, in Wahrheit das Regime arbeitsunfähig machten, sobald sie zur Aktion schritten und die ihnen institutionell gesetzten Grenzen übertraten. Aktion und direkte Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, die innerhalb des Rätesystems lokal begrenzt sind und ihm durchaus entsprechen, sind offenbar tödlich für eine Institution, deren eigentliche Funktion die Nominierung von Abgeordneten und somit der Verzicht auf Macht zugunsten von Repräsentation ist.

Es steht in der Tat außer Frage, daß die Nominierung von Kandidaten zur Wahl den Generalnenner aller Parteien in gleich welchem System bildet, woraus zu folgen scheint, daß „der Nominierungsakt an sich genügt, um eine politische Partei entstehen zu lassen“. Dies aber heißt, daß die Institution der Partei von vornherein entweder vorausgesetzt, daß die bürgerliche Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten von anderen öffentlichen Institutionen garantiert wird – was nicht der Fall ist – oder daß solche Anteilnahme gar nicht erwünscht ist, daß die Bevölkerungsschichten, welchen die Revolutionen soeben den Zugang zum politischen Raum eröffnet haben, sich mit Repräsentation zu begnügen haben. In der Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat schließlich, in dem sich alle politischen Fragen in administrative Aufgaben auflösen, die am besten von Experten behandelt und entschieden werden, kann man auch den Abgeordneten des Volkes kaum noch eine legitime Handlungsfreiheit zusprechen; sie sind zu Beamten geworden, deren Verwaltungsaufgaben zwar in den öffentlichen Bereich fallen, sonst aber nicht wesentlich verschieden sind von Verwaltungsfunktionen in der Privatwirtschaft. Sollte diese Entwicklung unaufhaltsam sein, so würde das Absterben des politischen Bereiches, seine graduelle Transformation in eine Verwaltungsmaschinerie, die Engels für die klassenlose Gesellschaft vorausgesagt hat, eindeutige Wirklichkeit werden, und in diesem Fall müßte man in der Tag zugeben, daß die Räte eine atavistische Institution sind, die sich in der Ordnung menschlicher und bürgerlicher Angelegenheiten nur störend bemerkbar machen können.

Sieht man, wie es leider gemeinhin üblich ist, nur auf die Zeichen der Zeit und nicht auf die lebendigen Intentionen und Aspirationen der Menschen, die in ihr leben, so kann man nicht leugnen, daß diesen Prognosen eine große Wahrscheinlichkeit zukommt. Aber dann muß man auch die Konsequenzen ziehen und zugestehen, daß der Vorwurf des Atavismus sich in gleichem Maß gegen das Parteiensystem richtet; denn da das Geschäft von Verwaltung und Administration naturgemäß von rein wirtschaftlichen Notwendigkeiten diktiert wird, ist es wesentlich nicht nur unpolitisch, sondern auch unparteiisch. Die Parteilichkeit der Parteien ist hier kein geringerer Störungsfaktor als die Lust am Handeln, für die das Rätesystem den geeigneten öffentlichen Raum zur Verfügung stellt. Interessenkonflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen lassen sich in der Wohlstandsgesellschaft ausgleichen; einen eigentlichen Klassenkampf, bei dem der Interessengewinn einer Klasse stets auf Kosten einer anderen geht, gibt es nicht mehr in der Überflußgesellschaft, und auch das Prinzip der Opposition kann nur so lange gültig bleiben, als es echte Alternativen gibt, zwischen denen entschieden werden muß und die sich nicht objektiv durch Experten erledigen lassen. Wo der Staatsapparat sich wirklich in eine Verwaltungsmaschine verwandelt hat, kann das Parteiensystem nur Leerlauf erzeugen und Tüchtigkeit verhindern …

Es liegt im Wesen des Parteiensystems, daß es echte politische Begabungen nur in Ausnahmefällen hochkommen läßt, und selbst in diesen Ausnahmefällen geht die Begabung an den kleinlichen Schikanen der innerparteilichen Kämpfe leicht zugrunde. Natürlich waren die Männer, die in den Räten versammelt waren, auch eine Elite, sie waren sogar die einzige echte, aus dem Volk stammende Elite, die die Neuzeit gesehen hat; sie waren nicht von oben nominiert und von unten unterstützt, sondern frei von ihresgleichen gewählt, und da sie den Wählern in der Ratsversammlung Rechenschaft abzulegen hatten, blieben sie mit ihresgleichen verbunden und ihnen verantwortlich. In gewissem Sinne kann man sagen, daß hier einmal eine Elite nicht von anderen, nach welchen Kriterien immer, ausgesucht worden, sondern vielmehr durch sich selbst entstanden ist; diejenigen, die sich in Räten zusammentaten und organisierten, waren identisch mit den Verantwortungsbewußten, welche die Initiative ergreifen wollten; sie waren in Wahrheit die politische Elite des Volkes, welche die Revolution nur ans Tageslicht gebracht hatte. Wenn die Mitglieder der oberen Räte dann darangingen, Abgeordnete für die nächst höhere Stufe zu wählen, so wählten sie wieder unter Gleichen, und dasselbe gilt für die Abgeordnetenwahlen bis hinauf zum Obersten Rat; ein Druck von unten oder von oben ist innerhalb dieses Systems unmöglich.

Die so Gewählten verdanken auf allen Stufen ihre Wahl ausschließlich dem Vertrauen von ihresgleichen, und diese Gleichheit beruht nicht auf der Menschennatur und nicht auf angeborenen Eigenschaften, sondern ist politischer Art; es ist die Gleichheit derer, die sich auf ein Unternehmen verpflichtet haben und nun von ihm in Anspruch genommen sind. In ihrer öffentlichen Stellung können sie sich auf nichts stützen als das Vertrauen derer, aus denen sie selbst hervorgegangen sind. Zweifellos würde diese Staatsform in voller Entfaltung wieder die uralte Gestalt der Pyramide annehmen, als die Gestalt aller Staatsformen, die wesentlich auf Autorität beruhen. Während aber in autoritären Regierungen, wie wir sie aus der Geschichte kennen, die autoritätsgebende Macht von oben nach unten „fließt“, würde in diesem Fall die Autorität weder oben noch unten ihre Quelle haben, sondern auf jeder Stufe der Pyramide gleichsam neue entstehen. Was immerhin die Richtung anzeigen mag, in welcher die Lösung eines der ernstesten politischen Probleme der Gegenwart, wie man nämlich nicht Freiheit und Gleichheit, sondern Gleichheit und Autorität vereinen kann, zu suchen ist…

Christ und Welt, Stuttgart, 10.09.1965