Wolfgang Ruge - Rätekongress - Die Selbstentleibung am 16. Dezember 1918
„Die Selbstentleibung
Montag, 16. Dezember 1918: Im Sitzungssaal des Preußischen Abgeordnetenhauses wird der Allgemeine Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands eröffnet; draußen, auf der Straße, spricht Karl Liebknecht zu einer 200 000köpfigen Menschenmenge. An den ersten konterrevolutionären Putschversuch vor zehn Tagen erinnernd, ruft er zum bewaffneten Schutz der Revolution und wiederholt den Grundgedanken seiner „Leitsätze“ vom 28. November: Die gesamte gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt müsse an eine Regierung der Arbeiter-, Soldaten- und Landarbeiterräte übergehen.
Heute, nach den bitteren Erfahrungen mit dem administrativen Sozialismus, wissen wir, daß die damit geforderte Abkehr von der Gewaltenteilung zugunsten einer Rätezentrale keine Garantie gegen die Entartung des revolutionsgeborenen Staates bietet. Damals drückte diese Forderung jedoch vor allem das aufbegehrende Verlangen der Massen restloser Vernichtung eines Regimes auf, das für millionenfachen Tod an den Fronten und unsägliches Elend im Hinterland verantwortlich war.
Die Menge jubelte Liebknecht zu. Die Mehrheit der Kongreßdelegierten wollte ihm hingegen nicht einmal zuhören. Eine Abordnung der Demonstranten, die darum bat, Liebknecht und Rosa Luxemburg wenigstens mit beratender Stimme zu den Verhandlungen zuzulassen, wurde aus dem Saal geworfen. „Parlamentarische Spielregeln“ in Aktion.
Daß die beiden herausragendsten Revolutionsführer kein Abgeordnetenmandat erhalten hatten, war nur z. T. auf den von Verwässerern der Räteidee zurechtgebogenen Wahlmodus zurückzuführen. Die Hauptursache für eine derart paradoxe Situation lag vielmehr in der deutschen Rätebewegung selbst.
Seit Beginn der Revolution (3. November) waren allerorts Räte spontan zur Durchsetzung unmittelbarer Forderungen von Truppenteilen, Belegschaften oder Gemeinden entstanden. Sie lehnten sich gegen Kadavergehorsam, Polizeimaßnahmen und Hungerrationen auf, verlangten die Entlassung verhaßter Offiziere und Beamter, übernahmen stellenweise die zusammengebrochene Versorgung der Bevölkerung. Nur dort, wo sich Spartakusanhänger oder andere revolutionäre Linke an ihre Spitze zu setzen vermochten, verstanden sie sich, bisweilen bewusst, den russischen Sowjets nacheifernd, als Glieder einer im Entstehen begriffenen neuen Staatsmacht. Oft genug glaubten aber auch sie, mit dem Sturz des Kaisers (9. November) und dem Abschluß des Waffenstillstandes (11. November) seien die entscheidenden politischen Fragen bereits gelöst. Die übergroße Mehrheit der Räte geriet in die Hände sozialdemokratischer, von einem funktionierenden Parteiapparat gestützter Funktionäre, die darauf vertrauten, daß die „Genossen da oben“ nun Schritt für Schritt eine gereichte soziale Ordnung (viele sprachen sogar vom Sozialismus) einführen würden.
Die „da oben“ – das waren die Mitglieder der neuen Reichsregierung, die sich, obwohl keineswegs aus der Rätebewegung hervorgegangen, populistisch „Rat der Volksbeauftragten“ nannte und sich, „Ruhe und Ordnung“ beschwörend, vor die alten Institutionen, das Offizierskorps und die Kriegsgewinnler stellte. Ihr vorsitzender, der rechte Sozialdemokrat Ebert, forderte seine „Mitbürger“ dringend auf, die Straßen zu verlassen und schwadronierte im engen Kreis seiner Mitarbeiter, daß das „Herum- und Hineinregieren der Räte“ aufhören müsse. Um den Boykott aller Kontrollmaßnahmen durch die alten Amtsträger wissend, wies er den Orientierung suchenden Röten die Aufgabe zu, die bestehenden Behörden zu „beaufsichtigen“.
Die Mehrheit der Räte durchschaute diese Taktik nicht und bewegte sich im Fahrwasser der Regierung.
Von den 489 Delegierten des Kongresses gehörten 291 der SPD an, 98 weiter (Soldaten u. a.) tendierten zu ihr. Schwankend verhielt sich ein Teil der 90 Mann starken USPD-Fraktion, der auch zehn oft mit den Linksradikalen (ebenfalls zehn Mandate) zusammengehende Spartakusanhänger angehörten.
Symptomatisch für die Regierung des Kongresses waren schon Eberts Begrüßungsworte „Das siegreiche Proletariat“, sagte er, „richtet keine Klassenherrschaft auf.“ Damit suggerierte er den nach einem radikalen Umbruch drängenden Arbeitern und Soldaten, sie seien die Sieger der Geschichte, schob aber zugleich den Forderungen nach einer Räterepublik einen Riegel vor. Ähnlich äußerte sich der USPD-„Volksbeauftragte“ Dittmann, der seinen Bericht über die Regierungstätigkeit mit einem Plädoyer für eine an den alten Reichstag anknüpfende Nationalversammlung schloß und ausrief: „Genossen, habt Vertrauen zur Sieghaftigkeit des Sozialismus!“
Der Rechenschaftsbericht des Vollzugrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, den Richard Müller (ebenfalls USPD) gab, enthielt zwar weinerliche Beschwerden über die Bevormundung des Räteorgans durch die Regierung und löste erregte Debatten über den Wandel der „Volksbeauftragten“ von – wie es aufgebrachte Delegierte nannten – Kostgängern der Revolution zu Kostgängern der Konterrevolution aus, änderte aber nichts. Beschlossen wurde, dem Rat, der künftig „Zentralrat“ heißen sollte, nur „Überwachungs“befugnisse zuzugestehen, ihn also zu einem Schattendasein zu verurteilen.
Die größten Schwierigkeiten bei der Zähmung des Kongresses hatte die Regierungsmannschaft dort, wo es um Fragen ging, mit denen sich die Arbeiter und Soldaten tagtäglich herumschlagen mussten. So ließen sich die Delegierten nicht dazu bewegen, einen aus Hamburg kommenden Antrag abzulehnen, dem zufolge die Kommandogewalt der Offiziere stark beschnitten und die militärischen Führer von den Soldaten gewählt, überdies auch die Rangabzeichen und das außerdienstliche Waffentragen abgeschafft werden sollten. Doch auch da fand Ebert einen Ausweg zur Rettung der „Ordnung“: Er setzte die Verwandlung der „Bestimmungen“ in „Richtlinien“ durch und vereitelte damit ihre Verwirklichung.
Beim wichtigsten Tagesordnungspunkt – Rätemacht oder Nationalversammlung – ließ sich der Kongreß , der indes ohnehin für die Neuauflage des alten Parlaments votiert hätte, übertölpeln. Noch vor der Grundsatzabstimmung peitschte das Präsidium einen Antrag über die Vorverlegung der Wahlen zur Nationalversammlung auf den 19. Januar 1919 durch. Damit war eine Vorentscheidung getroffen, die dann mit 344 zu 98 Stimmen bestätigt wurde. Das war die Selbstentleibung eines Revolutionsparlaments.
Nach diesem Erfolg wollte die Regierung die Delegierten nach Hause schicken, obwohl noch zwei Punkte auf der Tagesordnung standen: Sozialisierung des Wirtschaftslebens“ (Referat: Hilferding/USPD) und „Friedensregelung und Aufbau der deutschen sozialistischen Republik“ (Ledebour/USPD). Da Proteste laut wurden, ließ man schließlich Hilferding noch mit seiner – wie Rosa Luxemburg schrie – platonischen Redeübung auftreten (Ledebours Referat fiel ins Wasser) und jagte die Delegierten dann einen Tag früher als geplant, am 20 Dezember, auseinander.
Damit war die Rätephase der deutschen Revolution geendet. Vier Tage nach Abschluß des Kongresses donnerten in Berlin die Kanonen: Reaktionäre Truppen griffen die letzte revolutionäre Militäreinheit, die Volksmarinedivision, an. Zwei Wochen später sprach Noske sein berühmtes Wort „Einer muß der Bluthund sein“ und gab den Startschuß zur Strafexpedition der unter der Reichskriegsflagge wütenden Freikorps gegen die Berliner Arbeiter. Nach weiteren zehn Tagen wurden – zum Auftakt der ersten „demokratischen“ Wahlen in Deutschland – Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet“
„Prof. Dr. Wolfgang Ruge, „Die Selbstentleibung“, Neues Deutschland, 11.12.1993